
Xenia Muratova – Unvergesslich
Peter Cornelius Claussen
Xenia kannte ich seit den späten 1970er Jahren durch viele Begegnungen in Rom
und Heidelberg. Ich bewunderte ihr Wissen und ihre Passion für das Universum der
mittelalterlichen Bilderwelt und seiner Symbolik.


Dass sie auch eine genaue Kennerin gotischer Architektur und Skulptur war, wurde mir erst mit dem Erscheinen ihrer Mastera francuzskoj gotiki 1988 klar, ein Werk, dessen Rezeption in Westeuropa durch die Sprachbarriere eingeschränkt war. Trotz meiner geringen Russischkenntnisse konnte ich erkennen, dass hier ein Meisterwerk vorlag, das alle heiß diskutierten Fragen zur gotischen Kunst, auch deren Theorie und Soziologie unter einem universalem Gesichtspunkt in klarer Ordnung anpackte. Umso erstaunter war ich, als ich las, dass diese so aktuell scheinende Untersuchung schon 1971 und in Moskau geschrieben wurde. Jedes Gespräch mit ihr war eine Entdeckungsreise, zumeist in die Mirabilien mittelalterlicher Bestiarien, ihrer antiken Traditionen und ihrer Allegorien, Auslegungen und auch Kuriositäten. Ich spürte schon als junger Kunsthistoriker, wie sich Xenias ungeheures enzyklopädisches Wissen mit einer großen Neugier auf die Entstehungsumstände mittelalterlicher Kunst und mit der Frage nach dem mittelalterlichen Künstler verband, ein Gebiet, das mich besonders beschäftigte. Ihr Entzücken über ein Detail, ihr Humor, der nicht mehr brauchte als einen kurzen Blick des Einverständnisses, und die tiefe in vielen Sprachen modulierende Stimme bleiben unvergesslich. Man spürte ihren Willen, ihre Beharrlichkeit, ein kunsthistorisches Ziel über viele Stationen zu erreichen, die sich im Rückblick als ein konsequenter Lebensweg zusammenfügen. Wie ihr Onkel Pavel Muratov, dessen Andenken und Erforschung sie sich in den letzten Jahrzehnten widmete, schlug sie mit ihren Forschungen wissenschaftliche Brücken zwischen Russland, Italien, Frankreich und England. Dabei entstand ein staunenswert vielfältiges wissenschaftliches Oeuvre – eine Fülle von Abhandlungen, aber auch umfangreiche Handbücher zur europäischen Kunst des Hochmittelalters; eine Lebensleistung, die sie als eine der bedeutenden Persönlichkeiten der kunsthistorischen Mediävistik erscheinen lässt. Eine grande dame und ein wunderbarer, liebenswerter Mensch war sie sowieso.